Das Ariadne-Projekt

Venedig erscheint uns als Labyrinth.

die in der Regel mit roter Farbe auf die Fassaden gemalten Hausnummern geben den Besuchern kaum Anhaltspunkte zur Orientierung. Im ausgehenden 18. Jahrhundert wurden die Häuser, wie vielerorts in Europa, in jedem Stadtteil durchnummeriert. Im sestiere San Marco beginnt die Zählung mit der 1 und endet mit der Hausnummer 5562. Die letzte Hausnummer eines jeden Viertels (in Venedig vielmehr eines Sechstels) wird dabei stets mit einem entsprechenden Hinweis gekennzeichnet; hier also mit „ultimo numero del sestier de S. Marco“.

Bis heute spielen die Straßennamen in Venedig, anders als in vielen anderen Städten, nur eine untergeordnete Rolle. Zwar sollen die Hausnummern Ordnung und damit auch Kontrolle des Raumes schaffen, doch geht die Vergabe der Zahlen in Venedig so manches Mal verschlungene Wege. Durch die Nummerierung ist eine labyrinthische Struktur entstanden, die häufig nicht mit der Straßenführung korrespondiert und daher für Außenstehende schwer nachzuvollziehen ist.

In ihrem Ariadne-Projekt ist die Kölner Künstlerin Hiltrud Gauf den Hausnummern über Wochen wie einem roten Faden gefolgt. Beginnend mit der Hausnummer 1 eines jeden sestiere bis zur ultimo numero hat sie ihren Weg auf dem Stadtplan nachvollzogen. Diesen ‚roten Faden‘ eines jeden Tages hat sie dann aus marmoriertem venezianischem Papier ausgeschnitten. Es entstehen ganz eigene Strukturen, die einen Teil des Labyrinths zeigen und sich gleichzeitig verselbständigen und zu neuen Assoziationen einladen.

Das Projekt ist während eines Artist in Residence Aufenthaltes 2014 bei der Emily Harvey Foundation in Venedig entstanden.

 

Il progetto Ariadne

La città di Venezia ci appare come un labirinto i cui numeri civici, tradizionalmente dipinti in caratteri rossi sulle facciate delle case, sono per il visitatore riferimenti di scarsa efficacia.

Sul finire del diciottesimo secolo venne introdotta nella città lagunare, come anche in molte altre città europee, la numerazione degli edifici, e si optò per il sistema ad insulario, cioè una numerazione progressiva fondata sulla ripartizione dell’intera superficie urbana nelle sei zone dette sestieri. Così, ad esempio, nel sestiere di San Marco la numerazione inizia con il numero civico 1 e termina con il 5562, laddove l’ultima cifra viene contrassegnata da una annotazione specifica, in questo caso “ultimo numero del sestier de S. Marco”. Ancora oggi a Venezia i nomi delle strade giocano un ruolo subordinato. La numerazione civica ha per fine l’ordine ed il controllo dello spazio, ma qui l’assegnazione dei numeri procede talvolta in modo tortuoso. Si è così venuto a fissare un secondo ordinamento, sovrapposto a quello del reticolo viario, che spesso non corrisponde ai tracciati delle vie, al punto da risultare per un forestiero difficilmente comprensibile.

Hiltrud Gauf, artista originaria di Colonia, nel suo progetto denominato Ariadne ha percorso per settimane la città seguendo sulla pianta la serie dei numeri civici, sempre cominciando dal numero uno di ogni sestiere per giungere infine all’ultimo. Il tracciato percorso nell’arco di una giornata è stato poi riportato e ritagliato su carta marmorizzata veneziana, dando vita a nuove e sorprendenti figure che mostrano una parte del labirinto urbano e raggiungono al contempo un’identità propria che invita ad inedite associazioni di significato.

Il progetto è nato nel 2014 durante un soggiorno Artist in Residence presso la Fondazione Emily Harvey.

Serie di 44 fogli
Carta colorata su carta
16 x 24 cm
2014/2015

Der Bau

Einführung von Dr Antonia Wunderlich anlässlich einer Ausstellung in der Galerie Heinz Bossert, 07

„Ich habe den Bau eingerichtet und er scheint wohlgelungen.“ So beginnt Franz Kafkas Erzählung „Der Bau“, in der ein unterirdisch lebendes Tier detailliert von seiner Behausung berichtet. Die labyrinthische, sorgsam vor der Außenwelt verborgene Anlage besteht aus einer Vielzahl von Gängen, Höhlen, Vorratskammern und Durchbrüchen, deren Funktion und Größe der Protagonist in einem sich unendlich fortsetzenden Prozess perfektioniert.

Die Zeichnungen von Hiltrud Gauf, die Sie heute hier sehen, sind inspiriert von dieser Erzählung, ebenso wie von Aufnahmen des Fotografen …, der archaische Wohnformen in aller Welt abgelichtet hat. „Bauzeichnung“ nennt Gauf ihre Ausstellung, ein technischer Begriff, der an Pläne und Grundrisse, Wandmaße und Raumhöhen, architektonische Details und statische Berechnungen denken lässt. Hiltrud Gauf aber interessiert sich nicht so sehr für diesen Aspekt des Bauens, sondern für das, was mit und in dem Gebauten geschieht, oder vielmehr: für die Bedingungen, die ein jeweiliger Bau für die Menschen bereit hält, die ihn nutzen. Sie schaut also eher mit dem Auge eines Anthropologen, nicht so sehr mit demjenigen eines Architekten oder Konstrukteurs.

Sehen wir uns die Zeichnungen genauer an. Durch eine konsequenten Verdichtung der einzelnen Linie zu homogenen Flächen baut Hiltrud Gauf Oberflächen, deren Massivität sich erst beim Nähertreten als Trugschluß erweist. Ja sogar: deren Massivität sich beinahe ins Gegenteil verkehrt, in ein luftiges, offenes Netz, so fein und austariert sind die Striche über die Fläche verteilt. Wie ein Baumeister, dem die dritte Dimension abhanden gekommen ist, schichtet Gauf Linie auf Linie, Graphit auf Graphit, Kreideschicht auf Kreideschicht. Diesen konstruktiven Prozess machen ihre „Bauten“ sichtbar, ohne ihn so zu materialisieren, wie wir es von einem Gebäude gewohnt sind. Denn trotz der Gebundenheit der Zeichnung an die Fläche scheint in den Blättern etwas Räumliches und Substanzielles enthalten zu sein. Sie sind keine Repräsentationen von etwas, sie stellen keine Abbilder dar, ihr Zweck ist es nicht, eine besondere Sicht auf die Welt vorzuführen. Sie sind vielmehr eine ganz eigene Welt, sie sind gebaut, sie sind regelrechte Orte, in die man sich hineindenken und hineinfühlen kann. Zugleich sind sie auf eigenartige Weise exponiert, anders als Kafkas abgeschiedener Bau, bringen eine Welt zum Vorschein, die bisher nirgendwo existieren konnte.

Ob es sich um die mit Beinen versehenen Körper handelt, die auf den mit Fettkreide gezeichneten Arbeiten zu sehen sind oder um die hügeligen, homogenen, biomorphen Formen der beiden Bleistiftzeichnungen, Hiltrud Gaufs Methode des konzentrierten, in die Zweidimensionalität verdichtenden Bauens schafft eine Intensität und Präsenz, die sich nur erklären lassen, wenn man die Zeichnungen als Orte auffasst. Die Gebilde scheinen gegen die Grenzen des Papiers anzuarbeiten, drängen kraftvoll über sich selbst hinaus und greifen in den dreidimensionalen Raum des Betrachters ein, der sie umgibt. In den beiden Bleistiftzeichnungen geschieht dies sogar ganz real, das empfindliche, schwach geleimte Büttenpapier ist vom dichten Stricheln aufgerauht und gibt die Geschlossenheit seiner Oberfläche dem Raum-Bau-Körper preis. Und auch bei der Collage, in dieser Form einzigartig im Werk Hiltrud Gaufs – sie hat erzählt, dass die einzelnen Papierstücke aus frühen Versuchen zu den Bleistiftzeichnungen stammen, da kann man also schöne Studien darüber treiben, was die hier Hängenden von den dort Verarbeiteten unterscheidet – werden die Prinzipien des Schichtens, Überlagerns, Aufbauens und Konstruierens gleichsam wie auf einem goldenen Tablett vorgeführt: da schafft ein Mensch ein Gebilde, das in sich geschlossen, geschützt, von der eigenen Präsenz erfüllt ist – wie ein Haus eben.

Dr. Antonia Wunderlich, 07

Flächen05

Annäherung an Grau

Es scheinen graue Steinplatten zu sein, die in gleichmäßiger, quadratischer Form durch verschiedene Aus- und Anschnitte, durch bewusstes Verschieben ihrer Mittelachse auf den Blättern abgebildet sind. Oder sind es doch Collagen aus Filz und Papier, die in den grauen Schattierungen lebendig, körperhaft und fassbar auf der Wand zu tanzen scheinen?

Dem Auge offenbart sich eine Unmenge an Bleistiftstrichen, verwoben wie ein engmaschiges Netz. Durch starke Verdichtung der Striche entsteht eine graue Fläche, die aber an keiner Stelle fest und geschlossen ist, sondern bewegt und aufgrund der unterschiedlichen Dichte auch offen wirkt. Spannend ist die Betrachtung im Streiflicht, die gewollten oder ungewollten Verletzungen der Papieroberfläche und die glatten, glänzenden Bleispuren lassen das Werk dreidimensional und uneben erscheinen.
Je nach Lichteinfall verändern die Arbeiten ihre Wirkung, dabei bleibt lediglich die Form als Konstante erhalten und Grau als Grundton.
Hiltrud Gauf hat sich in ihren Zeichnungen der Herausforderung der Fläche gestellt und diese anders entwickelt, als es beispielsweise beim Druck der Fall ist.
Das Druckergebnis ist eine Fläche, die abgegrenzt, nicht mehr beeinflussbar ist und einen abgeschlossenen Prozess darstellt. Dagegen bekommt der Arbeitsprozess mit dem Bleistift innerhalb der sukzessiven Verdichtung zur Fläche eine zeitliche Dimension.
Diese ist für die Künstlerin als Erfahrung wichtig und gibt ihr die Möglichkeit, ständig in den Verlauf der Entstehung einzugreifen und ihn bewusst zu beeinflussen.
Die Formen sind dabei nicht unbedingt klar definiert, auch sie können während des Arbeitsprozesses entstehen und sich entwickeln.
Das Ergebnis bleibt offen.

Dr. Adelheid Teuber
Katalogtext, 2005